Volltextsuche:        
   A   B   C   D   E   F   G   H   I   J   K   L   M   N   O   P   Q   R   S   T   U   V   W   X   Y   Z   #   

 

   

Die Suche nach den Schuldigen

 
       
  In diesem »Dämonischen Lexikon« beschäftigen wir uns nur mit Theorien, die angeben, dass einige Personen oder Gruppen, die der jeweilige Theoretiker spezifizieren kann oft mit Vorund Zunamen sowie Adresse -, schuld an all dem Schrecken sind, der die meisten von uns berührt: vom ökologischen Ungleichgewicht bis zu ökonomischem Elend, von Krieg bis Armut, von Drogenkartellen bis hin zu der Tatsache, dass man am Wochenende keinen Klempner mehr kriegt. Diejenigen, die Schuld uns allen gleichermaßen geben, haben keine Verschwörungstheorie, sondern eine Erbsünden-Theorie. Die unheilvolle Zusammensetzung der Menschheit in Verschwörungstheorien scheint fast immer austauschbar oder homogen zu sein. Wenn eine Verschwörungstheorie postuliert, dass die Mitglieder der Verschwörung nicht alle den gleichen Anteil an der bewußten Bosheit ihrer Anführer haben, ist sie um einiges anspruchsvoller und ein gutes Stück realistischer als die meisten dieser »Sündenbock«-Theorien. Ezra Pound zum Beispiel schreibt in Canto 52: Sünde zieht Vergeltung nach sich, arme Jidds bezahlen für bezahlen für die Vendetta von ein paar großen Juden an Goyim (= Nichtjuden).2) (Das — steht für »Rothschild«, ein Name, den Pounds Verleger auf Anraten seines Anwalts entfernte. Pound bestand darauf, das — im Text zu belassen, damit man sah, dass sein Text einer Säuberung unterzogen worden war.) Was immer man von Pounds poetischem Gebrauch der Muttersprache hält, seine Worte repräsentieren eine der wenigen nicht austauschbaren Verschwörungstheorien: Ein paar große (= reiche) Juden tragen die Schuld an allem, sagt er, und die armen Juden müssen ungerechterweise dafür zahlen. Solche Theorien, die ein Körnchen Vernunft beinhalten, halten sich in Konspirologen-Kreisen meist nicht sehr lang, auch nicht in den Köpfen einzelner Verschwörungsjäger. Ein paar Jahre nachdem er diese Zeilen geschrieben hatte, begann Ezra Pound im Radio Rome über »die Juden« als homogene Gruppe herzuziehen, die für die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich sei. Eine ganz ähnliche Dynamik sieht man in der Entwicklung fast aller Verschwörungstheoretiker (außer bei mir, meinen Freunden und, natürlich, den Lesern dieses Buches). Die austauschbaren Gruppen, wie sie der eifrige Konspirologe fürchtet, kann es in Wirklichkeit gar nicht geben, weil alle Gruppen aus Individuen bestehen, von denen sich jedes auf irgendeine Art vom anderen unterscheidet (keine zwei Gehirne gleichen einander, genausowenig wie zwei Fingerabdrücke). Nichtsdestotrotz neigen die meisten existierenden Verschwörungstheorien zur Hypothese von der Austauschbarkeit der Teufelsgruppe, und das scheint sowohl ein Ergebnis des »paranoiden« (oder: Staatsanwalt-) Stiles der Geisteshaltung des Verschwörungsjägers zu sein als auch eine Folge der Struktur unserer Sprache, die es einem leicht macht, über Juden, Katholiken, Juristen, Mediziner, Banker, Freimaurer, Politiker, Männer usw. herzuziehen, und zwar als austauschbar und gleichermaßen böse. Nietzsche wies darauf hin, dass wir, nachdem die Menschheit es müde war, »dieses Blatt« und »jenes Blatt« und »das nächste Blatt« usw. zu sagen, die grammatikalisch-mystische Kategorie »das Blatt« erfanden, in der alle einzelnen Blätter Sonderfälle sind. Aber »das Blatt« existiert nirgendwo außerhalb der Grammatik und der Platonischen Philosophie daher tendiert unsere Sprache dazu, den Neo-Platonismus zu fördern, indem sie die Welt mit grammatikalischen Abstraktionen bevölkert. Jede Verschwörungstheorie, die sich in Richtung Austauschbarkeit bewegt, nähert sich gleichzeitig auch dem Platonischen Idealismus. Diese »sprachliche Hypnose« scheint so weit verbreitet zu sein, dass der Baron Alfred Korzybski die Wissenschaft der allgemeinen Semantik als einen Heilungsversuch dagegen erfand. In anderen Worten: Weil wir »die Juden« oder »die neue Weltordnung« oder »das Patriarchat« sagen können, können wir auch glauben oder beinahe glauben, dass diese grammatikalischen Abstraktionen zur gleichen Art Realität gehören wie Basketbälle, bellende Hunde oder gebackene Bohnen. Wie die Dinge liegen, verschwindet das Individuum mit all seinen Haaren, Fingernägeln, Idealen, Wahnvorstellungen und seltsamen Gerüchen, und kollektive Hauptwörter spuken in der Welt herum. Besonders Amerikaner scheinen Geschmack an Geschichten zu finden, die behaupten, dass alles Schlechte von den Manipulationen einer bösartigen Gruppierung herrührt, die kein bißchen moralischer ist als SPECTRE in den James-BondGeschichten. Vielleicht sollten wir, statt unsere Bürger in Verschwörungsgläubige und Ungläubige zu spalten, uns selbst teilen: in die, welche die Schuld den bekannteren Verschwörungen geben CIA, die Protokolle der Weisen von Zion, die Freimaurer -, und die, die ihre Treue und Gefolgschaft eher abstruseren Theorien geben, wonach die Schuld bei geheimen Gruppen liegt, von denen die meisten normalen Menschen noch nie etwas gehört haben, wie etwa die Gnomen von Zürich, die Malteserritter oder die Insider. Diejenigen, welche die Möglichkeit einer Verschwörung, egal wo, rundheraus verneinen, müssen irgendwann, wie seinerzeit Voltaire, erkennen, dass das Ausmaß menschlicher Dummheit etwa dem gleicht, was Mathematiker meinen, wenn sie von »unendlich« sprechen. Andere, die nicht glauben wollen, dass die Dummheit derart transzendente Proportionen erreichen kann, glauben notgedrungen an irgendeine Form der Verschwörung oder Verschwörungen, zumindest hin und wieder. Dummheit, so glauben wir meistens, kann nicht alles erklären, was auf diesem Planeten schiefläuft... In der Tat, diejenigen, die da glauben, »Verschwörungstheorien« enthalten nichts als paranoide Phantastereien, sollten bedenken, dass die Regierung der Vereinigten Staaten höchstselbst, aber auch andere fortgeschrittene Regierungen an Verschwörungen glauben und Gesetze dagegen haben. Sonderabteilungen der Polizeimacht haben den Auftrag, mögliche Verschwörungen auf verschiedenen Gebieten aufzudecken die SEC kümmert sich um Bankschwindel, die »Red Squad« jeder Polizeibehörde hält Ausschau nach subversiven Ideen, Staatsanwälte jagen nach Büchern, die so böse sind, dass sie nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sind (von der Radikale glauben, sie sei dazu da, alle Bücher zu schützen), sogar die CIA hält (wenn ihr das profitable Kokain-Geschäft dafür Zeit übrig läßt) nach Verschwörungen von außen Ausschau etc. Wenn wir (oder drei von uns vier) den Leuten, die uns regieren, nicht trauen, dann trauen die uns erst recht nicht. Und auch in keinem anderen Land fehlt es an Gesetzen zur Bekämpfung krimineller Vereinigungen und Behörden, die sie aufdecken und verfolgen sollen. Das erklärt zum Beispiel, wie die italienische Regierung 1980 die P2-Verschwörung aufdecken konnte, die über 950 ihrer Agenten in Spitzenpositionen der Regierung untergebracht hatte. Erst kürzlich hat die US-Regierung bei der Tabakindustrie Beweise für eine Verschwörung zur Täuschung der Öffentlichkeit gefunden. Solche Tatsachen sollten uns davor warnen, alle Verschwörungstheorien als Zeitvertreib für Spinner und Deppen zu betrachten. Keine dieser Behörden oder Agenturen, deren Aufgabe es ist, echte Beweise auf den Richtertisch zu legen, hat jemals auch nur Spuren jener wirklich Großen Verschwörungen gefunden, an die die echten Verschwörungsfanatiker glauben. Dem echten Konspirologen beweist das allerdings nur: Die Großen Verschwörungen haben wirklich universelle Macht, denn die mit der Aufdeckung beauftragten Agenturen sind »selbst ein Teil der Vertuschung«. Gegen diese Art Verblendung kämpfen selbst die Götter vergeblich an. Andererseits würde natürlich eine wirklich mächtige und wirklich intelligente Verschwörung niemals »aufgedeckt« oder auch nur verdächtigt werden, wie es Mel Gibson in seinem Film Conspiracy Theory zeigt. Daher kann niemand auch wirklich verrückte Verschwörungstheorien widerlegen, denn sie alle haben eine seltsame Schleife in ihrer Konstruktion: Jeder Beweis gegen sie funktioniert nämlich gleichzeitig als Beweis für sie, wenn man die Dinge so sehen will. Daher überlebt die Pop-Dämonologie der Verschwörungstheorie jede Kritik, genau wie ihre Cousine, die Theologie. Leute glauben nicht aus logischen oder wissenschaftlichen Gründen antheologische oder dämonologische Weltmodelle, sondern aus »künstlerischen« oder zumindest emotionalen Gründen. Diese Modelle oder Geschichten geben harmonische, zusammenhängende und recht schlichte Erklärungen für Ereignisse, die ohne sie chaotisch wirken und jenseits menschlichen Verständnisses zu liegen scheinen. Deshalb glaube ich selbst an viele davon.  
 

 

 

 
 
Diese Seite als Bookmark speichern :
 
 

 

 

 
 
<< vorhergehender Begriff
 
nächster Begriff >>
Die Sonne
 
Die Taktik machte sich bezahlt
 
     

 

Weitere Begriffe : Groll, Oswald | Phantasie | GOOD TIMES VIRUS 2
 
Lexikon Esoterik |  Impressum |  Rechtliche Hinweise |  Datenschutzbestimmungen |  Lexikon Religion
Copyright © 2010 Lexikon der Esoterik & Religion. All rights reserved.