Volltextsuche:        
   A   B   C   D   E   F   G   H   I   J   K   L   M   N   O   P   Q   R   S   T   U   V   W   X   Y   Z   #   

 

   

Kultisches Zwielicht

 
       
  Verschwörungstheorien florieren in Zeiten und an Orten der Unsicherheit und Ängste, aber erst in Zeiten, in denen die Regierung selbst Verschwörungen befürchtet, d.h. ihrer Bevölkerung nicht mehr traut, blühen sie richtig auf. Hier betreten wir wirklich trübes Gelände, wo viele Leute tatsächlich unter Überwachung stehen, weil sie einmal geglaubt und gesagt haben, die Regierung würde sie bespitzeln. »Wenn die Regierung dem Volk nicht traut, warum löst sie es dann nicht auf und wählt ein neues?« fragte einst Bert Brecht. Eine Regierung, die sich vor ihrem Volk fürchtet, kann es nicht so einfach auflösen oder durch ein beschlagnahmtes, von irgendwoher importiertes Volk ersetzen, also muß sie das Volk, das sie hat, bespitzeln und in dessen Privatleben herumstochern. »Aberglaube fliegt, wie die Fledermaus, meistens im Zwielicht«, schrieb Sir Francis Bacon. Ganz ähnlich denke ich nach beinahe 30 Jahren Studium der Verschwörungstheorien -, dass verschrobene Verschwörungstheorien und moderne Folklore am besten in einer Atmosphäre der Unsicherheit und Angst gedeihen. Wenn die Leute nicht wissen, was als nächstes passiert, wird sich jede wilde Story sehr schnell unter der Bevölkerung verbreiten; statt ganz ohne Erklärung für ihre Lage zu bleiben, scheinen die Menschen Geschichten vorzuziehen, und seien sie noch so blödsinnig. Und der Kern jeder guten Geschichte ist, wie in der Verschwörungstheorie auch, das Komplott. Wenn die Leute ihrer Regierung nicht trauen, dann traut diese ihnen auch nicht. Traut die Regierung dem Volk nicht, traut ihr auch das Volk nicht. Dieses Karussell ist fast schon ein Perpetuum mobil. In einem Land, in dem Ihr Urin nicht mehr Privatsache ist, sondern die Machtelite ihre Schnüffler ausschickt, um Sie bis ins Innere Ihrer Harnblase auszuspitzeln wer kann sich da noch frei und sicher fühlen? Daher werden die Leute immer feindseliger und »paranoider« gegenüber ihrem Staat; und die Regierung, die das merkt, wird immer nervöser wegen irgendwelcher »Militanten« oder »Kulten« oder »Hippies« oder »Extremisten« oder sonstigen staatsfeindlichen Minderheiten, die sich überall aufhalten und alles mögliche aushecken könnten. Daher stellt die Regierung mehr Lauscher und Abhörer ein, legt mehr Wanzen und spioniert das Volk mit immer größerem Eifer aus. Diese seltsame Schleife wird schnell zum Teufelskreis, da sich die staatliche Paranoia in Sachen Volk und die des Volkes in Sachen Staat gegenseitig aufschaukeln. Dieser Kreislauf geht weiter, bis das System zusammenbricht, die Finanzierung ausläuft oder, dank göttlicher Intervention, geistige Gesundheit wiederkehrt.


In der Zwischenzeit gedeihen endlose und labyrinthartige Verschwörungstheorien, sowohl bei der Regierung als auch unter den Regierten, die immer mehr Angst voreinander kriegen. Der Kalte Krieg hat uns Spionage, Schnüffelei und Verfolgungswahn hinterlassen, die keiner rationalen Funktion mehr dienen (wenn sie es je getan haben). Das geht nach dem Ende des Kalten Krieges alles selbst weiter, weil Politik wie die Newtonsche Mechanik einem Gesetz der Trägheit gehorcht, wonach ein politischer Kreuzzug in Bewegung in dieser Bewegung verharrt, bis irgendeine von außen wirkende Kraft diese Bewegung unterbricht. Keine solche Kraft von außen hat bis jetzt unsere Bewegung in Richtung einer Kafka-Orwell-Welt verlangsamt, in der die verrücktesten Phantasiegebilde für mehr und mehr Menschen zunehmend plausibel wirken. Ein anderer Faktor, der dazu beiträgt, Verschwörungstheorien über die bloße Notwendigkeit hinaus zu vervielfachen, besteht darin, dass alle Geheimdienste zwei Funktionen zu erfüllen haben, nämlich das Sammeln von präzisen Informationen, die Herstellung und Verbreitung falscher Informationen. In anderen Worten: Ein Geheimdienst muß zuerst einmal herausfinden, »was zum Teufel eigentlich los ist«, und zwar aus demselben Grund, aus dem eine Bank oder ein Gemüsehändler oder Sie oder ich solche echten Informationen brauchen. Daher die riesigen Etats für Punkt 1 oben. Geheimdienste müssen aber ihren Konkurrenten außerdem immer eine Nasenlänge voraus sein, also den rivalisierenden Geheimdiensten fremder und daher heimtückischer Regierungen. Deshalb geben sie sich die größte Mühe, falsche Informationen zu verbreiten »Desinformation«, was nichts anderes bedeutet als »Tarngeschichten«, »Vertuschungen« etc. Um jemanden zu täuschen, der zur Zeit als »der Feind« fungiert, müssen diesen Phantasiegeschichten genug Fakten und genug Plausibilität beigemischt werden, um auch viele andere zu täuschen, die derzeit noch nicht als »Feind« definiert werden. Auf jeden Fall müssen sie Personen von durchschnittlicher Intelligenz und Erziehung täuschen, oder sie funktionieren schlicht und einfach nicht. Gute Desinformation sollte auch Personen von überdurchschnittlichem Witz und Wissen überzeugen, wenigstens für eine Weile. Kurz: Moderne Geheimpolizei-Arbeit funktioniert im Grunde wie Poker. Alle Spieler versuchen zumindest zeitweilig, falsche Signale auszusenden und »die echte Wahrheit« hinter den falschen Signalen, die die anderen aussenden, herauszufinden. In einer Welt, in der sich Nationen zueinander auf diese Art verhalten, gedeihen Verschwörungsstories wie Bakterien in Abwasserkanälen. Wie Henry Kissinger angeblich sagte: »Jeder in Washington, der nicht paranoid ist, spinnt.« Jeder Bürger einer auf diese Art regierten Welt, der nicht wenigstens ein bißchen unter Verfolgungswahn leidet, muß schon als Kind einen Gehirnschaden erlitten haben. Diese Paranoia eskaliert rapide, sobald sich die Regierung in ausführliche (wohl publizierte) Schnüffeleien und Bespitzelung der Öffentlichkeit ergeht. In jeder Nation, in der es nur irgendeine Art Geheimpolizei gibt, lernen die Leute schnell, diejenigen zu verdächtigen, die sie verdächtigen. Konkret: Es gibt Amerikaner, die befürchten, dass irgendein Teil der Regierung oder sogar irgendeine Organisation, die nicht zugibt, Teil der Regierung zu sein, als Fassade für die CIA, das FBI, das BATF (Bureau for Alcohol, Tobacco & Firearms), die National Security Agency oder noch esoterischere und manipulativere Gruppen auftritt. Je allgegenwärtiger die »Kontrolle« der Regierung ist, desto mißtrauischer und vorsichtiger werden die Leute. Und je mehr Leute zeigen, dass ihnen das Vertrauen in die Regierung fehlt, desto mehr wird sich die Regierung genötigt sehen, sie zu bespitzeln, um ganz sicher zu gehen, dass sie sich nicht so weit entfremdet haben, um eine Rebellion auszubrüten oder noch mehr hausgemachte Bomben von der Oklahoma-City-Art zu legen. Die Regierung wird also immer mehr schnüffeln und spionieren, und die Leute werden immer »vorsichtiger« werden. Als eine grobe Form der Umfrage habe ich die Zuhörer in Hunderten von Vorträgen und Seminaren gefragt, ob einer von ihnen jemals freiwillig die ganze Wahrheit über irgend etwas einem Staatsbeamten erzählen würde. Niemand hat je die Hand gehoben und einen solchen Grad an Vertrauen und Fügsamkeit gezeigt. Kein Mann und keine Frau in den Vereinigten Staaten von heute möchte, dass die Bundesbehörden zuviel über das erfahren, was sie oder er wirklich machen. Seit die Regierung vor langer Zeit schon den Punkt überschritten hat, an dem »alles, was nicht verboten ist, bindende Pflicht ist«, wünscht sie nun durchzusetzen, dass »alles, was nicht bindende Pflicht ist, verboten ist«, ... und so vermuten wir alle, dass wir zumindest technisch betrachtet Kriminelle sind, doch ebenso wie Kafkas Helden sind wir nicht ganz sicher, welche Vorschrift oder Vorschriften wir möglicherweise verletzt haben. So geraten wir in eine Situation, die bei der Armee Optimum Snafu (Snafu = Situation Normal, All Fucked Up) genannt wird. Die oben erfahren nie etwas, was sie veranlassen könnte, den Informanten zu bestrafen, und die unten halten den Mund über all das, was sie tatsächlich sehen, hören, riechen, schmecken oder sonstwie von der Umgebung mitkriegen. Auf lange Sicht versuchen also die Leute an der Spitze der Pyramide Dinge zu regulieren, von denen sie gar nichts wissen, aufgrund von Berichten, die von Lügnern und Arschkriechern erfunden worden sind, um zu verhindern, dass die Mächtigen von ihrer schrecklichen Macht allzu zerstörerisch Gebrauch machen. Aber wenn die meisten Leute immer ein bißchen lügen, wenn sie es mit dem Staat zu tun haben, muß der Staat ein recht seltsames und unrichtiges Bild von den Leuten haben und von dem, was sie wirklich tun und wollen. Gesetze richten sich daher an eine fiktive Bürgerschaft und nicht an die Leute, die wir wirklich sind. Deswegen machen die Gesetze für diejenigen, die sie ertragen müssen, zunehmend weniger Sinn, und die Feindschaft gegenüber der Regierung wächst. All diese Zyklen verwickeln sich zu einem Knäuel von seltsamen Schleifen und Teufelskreisen, aus denen es gegenwärtig keinen Ausweg zu geben scheint. Wenn nicht, wie schon gesagt, die Finanzierung ausläuft oder eine höhere Macht sich einmischt, werden Verschwörungstheorien wachsen und gedeihen, sowohl unter der zunehmend verunsicherten Bevölkerung als auch unter den Politköpfen und Bürokraten, die versuchen, sie zu regieren. Und jede Stimme, die versucht oder vorgibt, in dieser schizoiden Situation die Wahrheit zu sagen, gerät sofort unter Verdacht, ein weiterer Verführer oder Manipulator zu sein, dessen »Seemannsgarn« so kritisch zu betrachten sei, wie ein Postmodernist es mit der Unabhängigkeitserklärung oder dem Zweiten Gesetz der Thermodynamik tun würde. Wir sind inzwischen allesamt Dekonstruktivisten, ob wir dieses Wort nun schon gehört haben oder nicht.
 
 

 

 

 
 
Diese Seite als Bookmark speichern :
 
 

 

 

 
 
<< vorhergehender Begriff
 
nächster Begriff >>
Kultgemeinschaft
 
Kulturheros
 
     

 

Weitere Begriffe : wünschen | Amalgam aus Heidentum und Christentum | Coex-System
 
Lexikon Esoterik |  Impressum |  Rechtliche Hinweise |  Datenschutzbestimmungen |  Lexikon Religion
Copyright © 2010 Lexikon der Esoterik & Religion. All rights reserved.